SANKT•SPIRITUS

Die Schreibwerkstatt von Carmen Winter

Die Sache mit den Adjektiven

Gepostet von am 8. Jun. 2020

Wenn ich in Schreibwerkstätten dazu rate, mit Adjektiven sparsam umzugehen, ernte ich meist Widerspruch: Aber die machen einen Text doch farbig und lebendig. Das haben wir in der Schule gelernt.
Nein, machen sie nicht. Ich lasse dann gern aus einem Text alle Adjektive streichen. Und – ist der Text jetzt weniger … farbig?
Auch die folgende Übung ist erhellend.

Wir schreiben einen Fünf-Minuten-Text mit vielen Adjektiven. Dann unterstreichen wir alle Adjektive im Text. Jetzt rufen uns die anderen in der Gruppe beliebige Adjektive zu, mit denen wir unsere ursprünglichen Adjektive ersetzen.

Das kann so aussehen:

Garten (mit originalen Adjektiven)
Der grüne Garten wurde im Verlauf des Jahres ein brauner Garten. Denn der große Wettergott hatte beschlossen, es nicht regnen zu lassen. Kein sanfter Regen, kein prasselnder Rege, kein starker Gewitterregen, kein warmer und kein kalter Regen. Einfach überhaupt kein Regen. So lautete der unumstößliche Beschluss des großen Wettergottes.
Der kleine Gärtner schleppte Tag für Tag die schweren Gießkannen. Aber aus dem grünen Garten wurde trotzdem ein brauner Garten. Ein trauriger, brauner Garten. Bald schon war aus dem grünen Garten eine gelbe Düne geworden. Der kleine Gärtner wusste nicht, was er machen sollte. Er führte archaische Regentänze auf, trommelte wild. Es half nichts. Schließlich beschloss er umzuschulen.

Garten (mit ersetzten Adjektiven)
Der krautige Garten wurde im Verlauf des Jahres ein süßer Garten. Denn der salzige Wettergott hatte beschlossen, es nicht regnen zu lassen. Kein pfefferminziger Regen, kein weißer Rege, kein adliger Gewitterregen, kein fleischiger und kein billiger Regen. Einfach überhaupt kein Regen. So lautete der willige Beschluss des unbeliebten Wettergottes.
Der quirlige Gärtner schleppte Tag für Tag die klebrigen Gießkannen. Aber aus dem gewürzten Garten wurde trotzdem ein veganer Garten. Ein vergesslicher, dummer Garten. Bald schon war aus dem buckligen Garten eine schleimige Düne geworden. Der violette Gärtner wusste nicht, was er machen sollte. Er führte tanzend Regentänze auf, trommelte falsch. Es half nichts. Schließlich beschloss er umzuschulen.

In fast jedem der Texte, die so entstehen, gibt es eine besondere Kombination von Adjektiv und Substantiv. Eine, in der der Keim für einen neue Geschichte steckt. Ich habe diesmal den salzigen Wettergott gewählt, um einen neuen Text zu schreiben.

Wettergötter
In einem fernen Land vor langer Zeit glaubten die Leute an einen salzigen Wettergott. Diesem Gott musste jeden Tag eine Schüssel Salz geopfert werden. Die Menschen stellten die Schüssel auf ein Floß und überließen beides dem Fluss, der an ihrem Dorf vorbeifloss. Am Ende des Flusses war das Meer. Dort, so glaubten die Leute, wohnte der Wettergott. Von dort aus sandte er Sonne, Wolken, Regen, Sturm und Schnee ins Land.
Wenn die Leute genug Salz opferten, schickte der Wettergott das richtige Wetter zur richtigen Zeit.
Auch am Meer wohnen Menschen. Sie glaubten, dass der Wettergott ein großer Vogel sei. Schwarz die ein Rabe. Wenn er seine Flügel ausbreitete, sagten die Leute, kommt Sturm auf. Deshalb muss man ihn dazu bringen, immer still zu sitzen. Das macht er, wenn er eine liebliche Rabenfrau anschauen kann.
Und so hängten die Leute am Meer Vogelkäfige mit Rabenfrauen in ihre Vorgärten.
Einmal kletterte ein vorwitziger Junge aus dem Dorf am Fluss auf ein Floß und setzte sich neben die Salzschüssel. Er wollte den Wettergott kennen lernen. Als er am Meer ankam, sah er die gefangenen Rabenfrauen. Sie taten ihm leid und er ließ sie frei.

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